Das Leben schreibt viele Geschichten, jeden Tag neue. Manche sind heiter, lustig oder einfach schön. Andere sind ernst oder wecken gar traurige Gefühle. Und manche sind wie eine Achterbahn. Da hat einer Glück im Unglück, großes Glück sogar - und am Ende gibt es dann doch kein happy end.
Damit sich jetzt niemand zu sehr beunruhigt, sage ich es gleich: Diese Geschichte handelt nicht von einem Menschen, sondern von einem Vogel. Einem Star, genauer gesagt.
Der jüngste Sohn, der eine Ausbildung als Tierarztassistent macht und eben sein erstes Lehrjahr hinter sich hat, brachte ihn am Freitag in einer Pappschachtel von der Arbeit mit nach Hause. Es war ein Starenkind, noch nicht ganz flügge, und es hieß Franzl. Eine Katze hatte es erwischt und ihren Leuten als lebendes "Geschenk" verehrt. Dabei muss sie erstaunlich vorsichtig gewesen sein, denn außer ein wenig Blut neben dem Flügel hatte das Vogeljunge keine sichtbaren Verletzungen. Der Katzenbesitzer brachte es sofort zur Tierärztin, und nach erfolgter Erstversorgung bekam es der Azubi übers Wochenende mit nach Hause und durfte versuchen, es aufzupäppeln.
Er war mit Eifer und Geschick bei der Sache und fütterte das Starenkind alle zwei Stunden mit Delikatessen wie Mehlwürmern, getrockneten Heimchen, Bananenbröckchen und Rosinen. Das größte Problem dabei war, dass das Vogeljunge nicht von selber den Schnabel aufsperren wollte. Dieser Reflex fehlte ihm völlig bzw. war ihm abhanden gekommen. Man musste also immer behutsam das Schnäbelchen öffnen, etwas Futter hineinstecken und dann dem Patienten gut zureden, damit er es auch brav hinunterschluckte. Gleichzeitig galt es, das zarte Geschöpf sanft, aber bestimmt festzuhalten, denn es strampelte immer wieder erstaunlich kräftig mit den Beinchen. Für mich war es etwas ganz Neues und Besonderes, meinem Buben bei einer solchen Arbeit zuzuschauen - es hat mich, ehrlich gesagt, sehr berührt und froh gemacht zu sehen, mit welchem Geschick und mit welcher Freude er das machte.
Dem Kleinen schien es auch ganz gut zu gehen, sein Tschilpen klang zunehmend kräftiger und er machte insgesamt einen recht gesunden Eindruck - nur den Schnabel wollte er auch am zweiten Tag nicht aufmachen.
Und als dann der junge Vogel-Pflegevater wieder einmal nach ihm schaute, lag er ganz still auf der Seite, gab keinen Laut mehr von sich und war auch nicht mehr auf die Beine zu bringen. Eine halbe Stunde später war er tot.
Kleiner Franzl, wir wissen, dass viele, viele Vogeljunge wie du ihre ersten Wochen nicht überleben. Die Natur ist so, und wir nehmen an, dass es so, wie es ist, wohl gut sein muss, auch wenn wir es nicht immer verstehen. Aber um dich haben wir getrauert, weil wir dich ein kleines bisschen kennenlernen durften und uns so sehr gefreut hätten, wenn du groß und stark geworden und in ein, zwei Wochen fröhlich in die Welt hinaus geflattert wärest. Wir haben dich im Rosenbeet begraben und werden uns, wenn wir unsere Nasen in die Rosenblüten stecken, bestimmt immer wieder an dich erinnern.